Reisetagebuch einer unerschrockenen Wanderin

Die Reisegruppe „Sonnenschein“ wandert sieben Tage im Tien Shan in Kirgisistan. Hagel. Schnee. Regen. Sonnenbrand. Ein exklusiver Einblick in das Reisetagebuch der Chronistin.

 

Ankunft in Barskoon

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Doppelregenbogen überm Ysyk Köl

Nach dem Mittagessen in Bischkek kaufen wir ein. Nüsse. Klopapier. Lieber noch mehr Nüsse. Chips für die Fahrt und Wasser. Wodka? Für nach der Wanderung. Fünf Stunden Busfahrt bis zum See. Ziemlich gute Straßen am Anfang, dann eher Schotterpiste aber dafür ein kompletter Doppelregenbogen. Abends kommen wir in Barskoon bei Shepherd’s Way Trekking  an. Schöne Zimmer, eingerichtet mit Naturholz und Abendessen in der Jurte. Es gibt frischgebackenes Brot und frittierte Aubergine mit frischer Tomate und großen Mengen Knoblauch. Unauffällig ziehe ich den Teller zu mir und mache ihn leer. Mit Rash, einem der Eigentümer besprechen wir die Route. Morgen wandern wir los!

 

Erster Wandertag

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Kurze Pause

Frühstück in der Jurte. Brot, Marmelade, Tee, mit Kohl gefüllte Teigtaschen. Dann werden wir mit einem klapprigen Wagen ein Stück in die Berge hochgefahren, ausgelaufen und laufen los, dem Guide hinterher. Er rennt bergauf. Ich bekomme keine Luft. Ich hatte mir schon gedacht, dass ich viel zu verweichlicht für diese Wanderung sein würde. Warum mache ich nie Sport? Erst später merke ich, dass es für die anderen auch zu schnell geht, weil nämlich im unauffällig begonnenen Gespräch alle anderen auch nach Luft ringen. Nachdem wir langsamer geworden sind, laufen wir durch ein liebliches Wäldchen bis zum Mittagessen, das schon von den Guides vorbereitet worden ist. Es gibt Brot, Süßigkeiten, Datteln, getrocknete Aprikosen, Erdnüsse, Pistazien, Käse. Das Brot ist etwas trocken, das ist mir aber egal. Es geht weiter, jetzt wird es schlimm, denn es beginnt zu regnen. Nein, ich habe keinen Regenschutz, denn diese Fachmenschen bei Globetrotter meinten, es sei völlig ausreichend meine Sachen in Plastiktüten zu verpacken. Mein Rucksack saugt sich voll und wird immer schwerer. Meine Füße schwappen in den Billigwanderschuhen und wir haben noch zwei Anstiege vor uns. Heulen? Nein, einfach weiterlaufen. Erstaunlicherweise kommen wir alle an, bauen die Zelte auf, frieren ein bisschen und dann gibt es heiße Suppe! Jetzt bin ich endlich im Zelt, rechts und links ein warmer Mann.

 

Zweiter Wandertag

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Flussüberquerung – immer elegant

Wir bleiben länger liegen weil es regnet. Abgesehen davon, dass das schreckliche Neuigkeiten sind, ist es gemütlich und warm. Das Zelt steht abschüssig, wir haben uns heute Nacht alle aufeinander geschlafen. Und ich hatte mich schon gewundert, warum alle kuscheln wollten. Der Vormittag ist aber schön. Nach dem Frühstück und Zeltabbau überqueren wir den Fluss an dem wir geschlafen haben – zu Pferd weil es keine Brücke gibt! Überraschenderweise komme ich auf Anhieb drauf und steige mit meinem Rucksack auf dem Rücken auf dem Rücken halbwegs elegant wieder ab. Es geht die Berge richtig hoch und wieder richtig runter. Mittagessen gibt es in einer Jurte, die Schäfer nehmen und netterweise auf. Die Männer bleiben draußen, die Köchin reicht Tee. Danach sind wir alle schläfrig. Der Guide ist wie immer voraus und manchmal sehen wir ihn nicht mehr. Er ist erst 32, sieht aber viel älter aus und hat auch schon fünf Kinder. Wir sind vor dem letzten Anstieg und er sagt, wir sollen unsere Regenkleidung anziehen. Hinter uns ziehen schwarze Wolken auf. Erst kommt starker Wind, der uns den Berg raufschiebt. Dann Regen, dann Hagel, der in den Hintern und die Beine beißt. Wir werden immer schneller. Es tut weh. Und ist kalt. Und wird schlimmer. Der Kamm ist noch so weit weg. Wir rennen schräg rechts in den Wald. Meine Blümchen, die ich gesammelt habe um sie hier einzukleben zermatschen unter meinem Rucksack. Ich bekomme kaum noch Luft aber endlich stehen wir unter einer Tanne (das war das, was man bei Gewitter nicht machen sollte, oder?), mir ist fast schwindelig vom Rennen. Als es besser wird – und zu kalt zum Stehen, gehen wir weiter bergauf. Endlich das Camp, wir bauen unser Zelt in einer Senke, in der sich das Hagelschmelzwasser sammelt und dann nochmal auf einem Hügel auf. Wir werden in einer Jurte in der Nähe zum Tee eingeladen. „Jetzt wird euch warm, meine verfrorenen Küken“ sagt der Schäfer. Seine Frau reicht Brot und dazu dicke Sahne. Ich frage mich, ob sie geraubt wurde. Brautraub ist in Kirgisistan leider üblich. Mein Schlafsack ist nass geworden, er trocknet auch nicht in den paar Sonnenstunden, die uns vergönnt sind. Alles ist klamm oder nass. Zwei von drei Paar Socken triefen. Meine Füße frieren in den Sandalen auf dem schmälzenden Hagel. Der übrigens ein faszinierendes Netz von kleinsten blauen Flecken auf meinen Beinen hinterlassen hat.  Aber dieser Ausblick. Hinter uns Glätscher und Bergsee, vor uns der große Ysyk-Köl-See.

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Ausblick vom Camp

Dritter Wandertag

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Deutsch, deutscher, Wanderhose in beige

Es regnet als wir aufwachen. Wir bleiben liegen. Nach dem Zeltabbau fängt es wieder an zu regnen. Schon nach den ersten Schritten sind alle nass, meine Hose klebt an meinen Beinen. Irgendwann hört der Regen auf, Himmel und Stimmung hellen sich auf, wir trocknen. Mittagessen gibt es auf einer Wiese mit weitem Blick. Es gibt Dosenthunfisch, mein Hunger ist stärker als mein Vegetarismus. Wir verbinden unsere Verletzten, verteilen die ersten Schmerztabletten und laufen weiter. Es ist lustig – bis ich beim Überqueren in einen Fluss falle. Ich bin einfach nicht schnell genug. Obwohl ich es fast geschafft habe, kippe ich rückwärts hinein. Rucksack, linker Schuh, linkes Bein sind im Wasser, Po tut weh. Ich springe schnell wieder raus. Wenigsten fängt es danach an zu regnen, sodass auch alle anderen nass werden. Dann gibt es wieder Hagel, aber weil der nicht wehtut wie gestern, lachen wir ihn aus. Babyhagel. In der Ferne winkt jemand. Wir sind in ein Schäfersommerhaus eingeladen worden! Wir sitzen triefend auf dem Boden und trinken Tee mit Milch, mir ist trotzdem kalt.

Astronomiegrundwissen
Grundwissen Astronomie

Ich werde in das erste aufgebaute Zelt geschickt und ziehe mir den Schlafsack über den Kopf. Es ist auch in Ordnung nicht mehr zu können. Ein Mitglied der Wandergruppe entscheidet sich, mit dem Nachschubauto zurück nach Barskoon zu fahren. Mit dem neuen Essen sind auch Regenhosen und zwei warme Jacken gekommen. Große Begeisterung allerseits. Es ist so kalt, dass ich im Vorzelt Zähne putze. Aber dieser Ausblick. Ein Sternenhimmel, sagenhaft. Man kann sogar die anderen Arme unserer Milchstraße sehen.

 

Vierter Wandertag

Aufwachen bei Sonnenschein. Neben dem Zelt grasen zwei Kälbchen. Ich habe zum ersten Mal gut geschlafen. Eingekuschelt in meinen Komfortbereich-bis -10 Grad-Celsius-Schlafsack. Wir frühstücken draußen, es gibt French Toast mit Sonne. Die Guides sind verkatert, weil sie gestern Nacht Kymyss getrunken haben, vergorene Stutenmilch. Zum ersten Mal baut die Reisegruppe Sonnenschein ihre Zelte schneller als die Guides ab!

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Mit den besten Grüßen aus der Schweiz

Heute laufen wir leicht bergan, fünf Berge entlang und dann rechts. Alle drei Minuten rufe ich aus, wie schön der Ausblick sei. Sieht aus wie die Schweiz, nur größer und ohne Straßen, Zäune und Menschen. Als es regnet, steigen wir in unsere neuen Regenhosen. Beim Anziehen regnet in meinen Steiß aber danach bin ich wind- und wasserdicht, was ganz großartig ist. Am Nachmittag treffen wir endlich die ersten (und letzten) anderen Touristen. Sie wünschen uns „Viel Spaß“. Deutsche. An ihren Buffs und Treckingsandalen sollst Du sie erkennen. Um viertel nach drei bleiben die Guides auf einer Edelweißwiese stehen, der Tagesabschnitt ist schon geschafft. Wir bauen die Zelte im Trockenen auf. Euphorische Premiere. Als ich gewaschen bin und Wasser geholt habe, beginnt es wieder zu regnen. Egal. Mit unserem Leukotape, mit dem ich sonst meine Füße einwickele, flicke ich unser zerfallendes Zelt. Es ist so früh, dass mir zum ersten Mal ein Buch fehlt, das ich als schlechte Bildungsbürgerin wegrationalisiert habe, um Rucksackgewicht zu sparen. Also schlafen wir bis zum Abendessen. Uigurische Nudelsuppe. Und weiterschlafen.

 

Fünfter Wandertag

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Unsere Gastgeber

Wir wandern weiter das breite Tal entlang, leicht bergauf, links der Fluss, ab und an Pferdeherden. Es ist so weit. Wir singen. Im Kanon. Zum Mittagessen werden wir wieder von einer Schäfersfamilie eingeladen. Wir verschenken Datteln, sonst haben wir schon alles aufgegessen, was sich als Gastgeschenk eignen könnte. Kirgisistan 2016 (460)Die Zeltherrin serviert frisch gebackenes Brot und selbstgemachte Butter. Es ist warm und neben mir schläft ein Baby in der Ecke. Ich ziehe in Erwägung nicht wieder aufzustehen. Gut, dass ich es doch tue, denn heute Abend haben wir das erste Mal schönes Wetter. Sehr aufregend.

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Abendhimmel ohne Regenwolken

Wir sammeln Holz, ich finde zwei riesige Äste am Flussbett, die ich zusammen mit den aufgefüllten Wasserflaschen in einem – leider unbeobachteten – Akt des Heroismus zum Camp schleppe. Nach dem Abendessen machen wir Lagerfeuer und singen den Guides unsere heute eingeübten gesammelten Gesangswerke vor. Sie tragen es mit Fassung. Habe ich schon erwähnt, dass Sternenhimmel und Ausblick wirklich umwerfend schön sind?

 

Sechster Wandertag

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Sonnenschein!

Ich schaue aus dem Zelt und die Sonne scheint. Es ist sogar warm. Ich trage weder Fleecepulli noch Regenjacke und fühle mich wild. Und bereit. Bereit für den Pass. Ich unzippe sogar den unteren Teil meiner Wanderziphose. Erst geht es nur leicht bergan, eine Wiese hinauf. Dann wird es steiniger, wir passieren zwei blau leuchtende Bergseen.

Das Geröll da hoch? Aber ja doch. Man muss ganz schön viel atmen aber es macht auch verdammt viel Spaß, so schnell unsere Fortschritte zu sehen.

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Rückblick auf den Bergsee

Der Bergsee wird immer kleiner. Immer höher, ich sammele alle Kräfte und bin als erste oben. Auf 3700 Meter Höhe!

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Passfoto

Vor uns liegt ein grünes, langes Hochplateu, rechts und links ein Gletscher. So viel Grün hatte ich nicht erwartet. Dafür aber, dass wir bald das Zeltlager aufschlagen. Leider gibt es auf dem Plateau aber kein Fließgewässer, nur starken Wind und sumpfige Böden. Ohne Fließgewässer gibt es aber kein Abendessen und keinen Tee, also gehen wir immer weiter. Viel weiter als wir dachten. Wir sehen die Guides nicht mehr. Die ersten Erschöpfungstränen fließen. Die Jungs glauben an eine Entführung: „Sie haben uns ausgehungert und erschöpft um uns jetzt in einen Laster zu laden.“ – „Wenn sie uns entführen ist es wenigstens warm und es gibt Essen.“ Ich versuche, dem mit ernsten Argumenten zu begegnen und lache nur ein bisschen. Abendessen gibt es dann auch ohne Entführung. Panik ziehe ich erst in Erwägung, als am Fluss meine Stirnlampe ausgeht und ich im Dunkeln die Zelte nicht mehr sehen kann. Kein Problem für eine abgebrühte Städterin. Ganz systematisch laufe ich das Terrain ab. Waren die Zelte auf einem Hügel? Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Ich rufe, niemand antwortet, alle schlafen schon. Also wieder runter. Weiter nach links? Für ein paar Sekunden kommt Licht aus der Lampe, ich leuchte herum und sehe -ein Dämonenpferd. Weißes Leuchten, grüne Augen. Da muss ich hin. Tatsächlich ist das Pferd bei den Zelten angepflockt. Ich habe schon früh erkannt, dass mit diesen Tieren etwas nicht stimmt und jetzt hat das Pferd sein wahres Wesen offenbart. Natürlich glaubt mir das morgen wieder keiner.

 

Letzter Wandertag

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Wetterwand

Wir sind wieder zurück. Ich liege sauber in meinem sauberen Nachthemd in meinem sauberen Bett. Alles sehr komfortabel. Auf meinem Handy warten 60 e-Mails und unzählige Chatnachrichten. Das Smartphone habe ich nicht vermisst, Warmwasser hingegen schon, deshalb war ich auch richtig lange in der Banja. Das ist eine Mischung aus Sauna und Warmwasserbereiter, man übergießt sich damit selbst. Und wird tiefenrein. Ich habe meine Haare drei Mal shampooniert. Es war wunderschön. Das haben wir auch verdient. Heute Morgen lag auf dem Zelt Schnee. Ich hatte eigentlich beschlossen, deshalb einfach nicht aufzustehen, kam aber nicht durch damit. Ein letztes Mal packen wir die nassen Zelte ein, schlüpfen in die feuchten Wanderschuhe und setzen unsere schweren Beine in Bewegung.

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Reisegruppe Sonnenschein – ein letztes Mal mit Regenschutz

Es regnet ein bisschen, auf der moorigen Wiese kann man nicht gut laufen. Aber unser Zielberg kommt doch näher. Rechts und links neben uns kann man es regnen sehen aber über uns scheint die Sonne. Die Berge mögen uns doch. Und dann sind wir schon am Treffpunkt, werden in die Autos geladen und fahren bergab. Je weiter wir die Schotterstraße herabfahren, desto wärmer wird es. Im Autospiegel sehe ich mich das erste Mal seit sieben Tagen: leichter Sonnenbrand, Haarwäsche dringend nötig, ansonsten breites Lächeln. Als wir auf den See zufahren, sieht es aus wie Kroatien am Meer. Außerdem stecken hinter meinem Sitz zwei Flaschen Bier, das, nachdem es uns vollgespritzt hat, ganz ausgezeichnet schmeckt.

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Blick aus dem Fenster in Barskoon

Als ich wieder sauber bin, evaluiere ich mich. Am Po habe ich einen blauen Fleck vom Flusskuss. Meine Füße sind in Ordnung, ich habe nur eine Blase und die ist zu. Meine Ferse ziept, meine Unterschenkel sind etwas zerschrammt und meine Hände sind viel brauner geworden als mein Restkörper. Meine Beine sind hinten immer noch lila gemustert. Geht voll. Zum Abendessen gehe ich gerne und esse heimlich den ganzen Salat auf. Oh Rohkost, Du hast mir gefehlt.

Ich liege in meinem weichen warmen Bett und schreibe melancholisch. Die Wanderung war anstrengend, aber ich war wirklich zäh. Sonst eher der Typ verweichlichter Jammerlappen, bin ich einfach immer weiter gelaufen. Und jeden Tag stärker geworden. Und habe mich selbst überrascht.

4 Kommentare bei „Reisetagebuch einer unerschrockenen Wanderin“

  1. Markus Golletz sagt: Antworten

    Marlene, willkommen im Summit Club! Sehr tapfer finde ich das. Wie erging es deiner Kirgisischen Freundin und auf welchen habt ihr euch bewegt?

  2. Amüsanter Bericht einer liebenswert echten und uneitlen Autorin.

    1. Dankeschön! Ich freue mich, dass Du den Beitrag gerne gelesen hast.

    2. Liebe*r Treflu, ich freue mich, dass dir mein Beitrag gefallen hat – es war eine tolle Reise!

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